3.
Der Windkanal bei Saunders-Roe hatte einen achteckigen Querschnitt und war gut zwölf Meter lang. Er bestand aus Plexiglas, damit die Experimente von außen beobachtet werden konnten, und die nutzbare Fläche war dreieinhalb Meter breit. Der Wind wurde von einem elektrischen Industrieventilator erzeugt. Für Turbulenz sorgten die drei Flügel, deren Winkel verstellbar waren, um die nötige Drehzahl der Stärke der Störung anzupassen.
Früher am Morgen, dankbar, dass am Samstag so wenig Leute dort waren, hatte ich schon die Barometer vor Ort in einer Druckkammer überprüft. Sie funktionierten einwandfrei. Jetzt musste ich noch verschieden schnelle Winde an den Anemometern vorbeijagen, die ich im Kanal aufgebaut hatte, um zu sehen, wie exakt ihre Messungen waren.
Ich hatte den ganzen Kanal im Blick, der in voller Länge mit Glühlampen von der Decke beleuchtet wurde. Ich schaltete den Ventilator ein, und mit einem Höllenlärm brach der Sturm los. Es war gar nicht so einfach, die Messwerte der einzelnen Skalen aufzuschreiben - der Wind verwirbelte mir immer wieder den Notizblock -, aber bald kam ich zu dem Schluss, dass auch die Anemometer von WANTAC zuverlässig waren.
Wenn es also nicht an Instrumentenfehlern lag, musste das Wetter selbst für die abweichenden Werte verantwortlich sein. Ich war so aufgeregt, dass ich vergaß den Wind abzustellen und hinter dem Versuchsaufbau auf und ab lief wie ein kleiner Junge, der am Strand auf die Schiffe im Sturm zeigt, während ich versuchte, mir auszurechnen, was diese Erkenntnis für die Invasion am Montag bedeutete. Das von WANTAC angedeutete zukünftige Wetter war zwar noch nicht ruhig genug, um die Landungen zu ermöglichen, aber es sah so aus, als ob sich sehr bald eine geeignetere Lage ergeben würde.
Die Frage blieb nur, wann? Wenn man wissen wollte, wie lange es dauern würde, bis das ruhigere Wetter im Ärmelkanal ankam, musste man die komplette Reihe von Werten der Ryman-Zahl analysieren, doch für die Berechnungen hatte ich nur sehr wenig Zeit. Wie sollte ich das an einem Tag schaffen? Für einen Einzelnen schien es völlig unmöglich.
Während ich noch überlegte, öffnete sich die Tür am anderen Ende des Windkanals und jemand kam herein. Zunächst dachte ich, es wäre der Windkanal-Aufseher, der mich hereingelassen hatte - Mr Blackford war nicht anzutreffen gewesen -, doch dann sah ich eine Frau mit einem kleinen braunen Lederkoffer.
Sie trug einen schwarzen Wollmantel und einen langen roten Strickschal, der locker um ihren Hals lag und im Sturm wie ein Windsack hinter ihr herflatterte. Der Mantel war offen, und darunter waren ein hoher weißer Blusenkragen, ein Pullover mit V-Ausschnitt und ein Rock zu sehen, der fast bis zum Boden reichte. Der Koffer schwang wie ein Pendel.
Sprachlos erkannte ich Gill Ryman. Mit wehenden Kleidern kam sie schnell auf mich zu und machte dabei Ausfallschritte zu beiden Seiten, weil der Wind sie fast aus dem Gleichgewicht brachte.
Sie sah älter aus, und dort, wo der Wind den Stoff an ihren Bauch presste, war deutlich zu sehen, dass sie nicht mehr schwanger war. Ihr Haar wehte im Wind parallel zum Schal, an dessen Enden die einzelnen Fransen in ihren eigenen kleinen Wirbelströmungen flatterten.
Einen Moment lang blieb ich erstarrt stehen und hatte den Eindruck, dass meine verwirrten Gefühle für sie, die so lange schmachtend im Dunkeln eingesperrt waren, plötzlich entfesselt wurden; als würde etwas aus einer geballten Faust entspringen, die sich öffnete.
»Gill!«, rief ich schließlich, stürzte auf sie zu und drückte sie an mich. Sie verharrte ein paar Sekunden lang reglos in meinen Armen, während der Wind an uns vorbeifauchte.
Die Zeit schien stillzustehen, bis Gill sich befreite - sie schob mich mit dem kleinen, braunen Koffer weg. Ich hörte mich sprechen: »Es tut mir schrecklich leid ... Ich habe geschrieben, erst gestern, aber wahrscheinlich haben Sie noch nicht...«
»Ich kann Sie nicht verstehen!«, schrie sie gegen den Wind an, taumelte und stürzte fast. Wieder hielt ich sie.
Während sie sprach, stemmten wir uns gegen den Wind, und sie musste sich an mir festhalten. Ich merkte, wie die Grenzen verwischt wurden. Es war, als würden sich in diesem Moment unsere Geister unter dem Einfluss von etwas Größerem zusammendrängen - etwas Grundsätzlichem, an dem wir teilnahmen wie Moleküle, die sich in dieselbe Richtung bewegen, weil sie der Strömung des Mediums folgen, das sie trägt.
»Ich schalte das Ding aus«, rief ich zurück.
Ich ging zum Bedienungsfeld und drückte den Knopf. Mit einem unheimlichen Seufzen kam der Ventilator zum Stehen. Der Sturm legte sich. Plötzlich war es still.
Als ich zu Gill zurückkam, setzte sie den Koffer ab. Sie näherte sich mir und musterte mich streng, während wir noch von der Windwirkung blinzelten. »Ich habe geschrieben«, sagte ich schließlich. »Wahrscheinlich nicht die richtigen Worte, aber ... es tut mir leid.«
Sie hielt sich die Ohren zu. »Hören Sie bitte einfach auf.« Dabei verzog sie das Gesicht und kniff die Augen zu.
»Sie haben mich zerstört, als Sie ihn zerstörten«, setzte sie schließlich fort, nachdem sie die Hände gesenkt und die Augen wieder geöffnet hatte, »aber ich bin nicht hergekommen, um Ihre Entschuldigung zu hören. Die kenne ich aus dem Brief. Außerdem muss auch ich mich bei Ihnen für die Sache mit dem Blut entschuldigen ... Das Ganze ist mir wirklich peinlich - ich war nicht ich selbst.« »Ich weiß.«
»Er ist erst gestern angekommen.« Sie hatte meinen Brief aus der Tasche geholt. »Mein Vater wollte nicht, dass ich heute hierherkomme. Er hat sich auch geweigert, mich zu bringen. Ich musste selbst fahren. Er mochte Wallace sehr. Seiner Meinung nach trifft Sie die volle Schuld an Wallaces Tod.«
Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen und fühlte ein Wirbeln im Kopf. »Und an dem Ihres Kindes auch, wie ich ihn verstanden habe. Es tut mir schrecklich leid, Gill - wenn ich geahnt hätte ...«
Sie schüttelte den Kopf. »Dafür können Sie nichts, auch wenn Wallaces Tod sicher nicht geholfen hat. Aber ich hatte schon mehrere Fehlgeburten. Der Rhesusfaktor - deshalb war ich so interessiert, als Sie damals beim Mittagessen von Brecher erzählten. Es war jetzt das achte Mal, ich habe mich also langsam daran gewöhnt. Aber es scheint jedes Mal früher zu passieren, deshalb bin ich auch so früh in Kilmun abgefahren.« Sie hörte sich kühl an, als spräche sie nicht über sich selbst und ihren eigenen Körper.
»Es tut mir schrecklich leid, Gill, wirklich. Wegen des Kindes und wegen Wallace.«
»Verdammt noch mal!« Sie machte einen Schritt auf mich zu und hob den Arm, als wollte sie mich schlagen, und kniff mir dann ins Gesicht, dass es schmerzte. Ihr Gesicht war nur noch Zentimeter von meinem entfernt. »Seien Sie still! Halten Sie doch einfach den Mund!« Dann stieß sie sich von mir ab, schüttelte den Kopf und sackte schluchzend am Boden des Windkanals auf die Knie.
Ich hockte mich neben sie, tätschelte ihr vergebens die Schulter, und das Schwindelgefühl wurde so stark, dass ich kaum noch klar denken konnte.
Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen und stand auf. »Ist schon in Ordnung. Es tut mir leid. Gott sieht alles; ein reuevolles Herz wird er nicht verachten. Daran versuche ich mich immer wieder zu erinnern, wenn ich an Sie denke, Henry.«
Trotz meiner Erleichterung, dass sie mir wohl keine Gewalt mehr antun wollte, schreckte ich vor dieser Frömmelei zurück. »Gott!«, rief ich. »Wenn ich den nur kennen würde. Dann hätte ich vielleicht auch nicht immer so ein verdammtes Pech! In der Hinsicht bin ich Wallace ähnlich geworden. Nach allem, was passiert ist, kann ich einfach nicht mehr an Gott glauben.«
»Wallace hat Gott in allen Dingen gesehen«, erwiderte sie trotzig. »Das haben aber leider nur wenige verstanden.«
Die Stahltür am Ende des Windkanals schlug auf. Diesmal kam tatsächlich der Aufseher von Saunders-Roe. »Ist hier alles in Ordnung?«, fragte er misstrauisch.
»Ja, alles bestens, danke«, antwortete ich. »Ich packe jetzt wohl langsam ein. Ich bin so weit fertig.«
»Was haben Sie hier untersucht?«, fragte Gill und sah sich die Anemometer am Ende des Tunnels an, als der Aufseher wieder ging.
»Windgeschwindigkeiten an Wetterschiffen. Wir hatten fehlerhafte Werte gemeldet bekommen. Wenigstens sahen sie so aus, aber nun bin ich mir ziemlich sicher, dass sie korrekt waren. Ich muss jetzt die Zahl Ihres Ehemanns für die angrenzenden Gebiete im Nordatlantik und im Kanal errechnen. Ich weiß nicht, ob ich genug Zeit habe. Ich muss leider schnell wieder zur Fähre nach Portsmouth. Gill - ich arbeite an ... naja, es ist Krieg.«
»Natürlich«, erwiderte sie. »Ich verstehe. Ich kann Sie zum Pier fahren, wenn das hilft. Dann bekommen Sie die Fähre um sieben.«
»Das wäre toll.«
Sie suchte in der Tasche nach ihrem Autoschlüssel, hob dann den Koffer auf und ging zur Tür. Ich sammelte meine Ausrüstung ein, verstaute alles in meinem großen Seesack und folgte ihr.
»Sie leben jetzt also hier?«, fragte ich verlegen, als wir hinaus ins Abendlicht traten. Einer der Fabrikarbeiter malte gerade die Zahl 52 auf ein großes Flugboot auf einem Gestell.
»Ja«, antwortete sie. »Aber in Seaview, nicht in Cowes. Ich konnte einfach nicht mehr nach Schottland zurück, nachdem ich wieder ein Kind verloren hatte. Ich habe alle unsere Habseligkeiten hierher bringen lassen.«
»Wir könnten uns noch einmal treffen«, schlug ich vor. »Über alles reden ...«
Sie schüttelte den Kopf. »Soll ich Sie jetzt fahren oder nicht?«
»Ja, gerne. Danke.« Wir gingen auf das Auto zu. »Es scheint mir wie vom Schicksal vorbestimmt, dass Sie heute gekommen sind«, setzte ich fort.
Sie sah mich an und schwang leicht bedrohlich den Koffer. »Schicksal? Wallace hat das Wort gehasst.«
»Aber er hat doch geglaubt, dass alles vorherbestimmt ist.«
»Nicht ganz.« Wir stiegen ins Auto, einen kleinen blauen Morris mit roten Sitzen. Ich legte den Seesack auf die Rückbank, und sie reichte mir den Koffer am Steuer vorbei, so dass er auf meinem Schoß lag.
»Er glaubte also, alles sei vorherbestimmt, aber nicht ganz?«
Sie warf mir einen finsteren Blick zu. »Ich meine, dass er es nicht so religiös sah. Er hat einmal gesagt, dass das Schicksal von der unberechenbaren Beziehung verschiedener physikalischer Größen abhängt.«
Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss. »Wissen Sie, was er mir auch mal gesagt hat?«
»Was?«
»Dass man nur die Wetterdaten des Zentrums jedes Atmosphärenquadranten und nicht alle einzelnen einberechnen soll, wenn man seine Zahl auf ein großes Gebiet anwenden will.«
»Ich weiß nicht, ob das funktionieren würde«, erwiderte ich. »Im Rest jedes Quadranten könnten zu große Abweichungen auftreten.«
»Es wäre aber einen Versuch wert, wenn es nicht anders geht. Man könnte in den äußeren Abschnitten quasizufällige Turbulenz simulieren.«
»Ja, vielleicht...«
Auf einmal war ich schrecklich müde. Unwillkürlich hatte ich alliierte Soldaten vor Augen, die, nachdem sie von den Landungsbooten ausgespuckt wurden, mit offenem Mund gegen die Strömung ankämpfen, während von der Küste aus Maschinengewehrfeuer auf sie niedergeht. Eine Flut von Menschen, die die Wellen rot färbt.
Gill sprach mit neutraler, emotionsloser Stimme weiter. »Ich habe etwas mitgebracht, was helfen könnte. Als wir in Schottland waren, und Sie kamen, und Wallace mir erzählte, dass er Sie verdächtigte, wollte ein Teil von mir, dass er Ihnen hilft. Ich war immer etwas enttäuscht, dass er sich in Kilmun niedergelassen hatte und kaum Anerkennung bekam für seine vielen Entdeckungen. Jetzt, wo er tot ist, soll er der Welt ein Vermächtnis hinterlassen. Und das habe ich Ihnen mitgebracht. Das hoffe ich zumindest. Öffnen Sie den Koffer, Henry.«
Verwirrt ließ ich die Messingverschlüsse aufschnappen und hob den Deckel. Zu meiner Überraschung lagen im Koffer in den grünen Stoffmulden die acht Patronenhülsen, die ich damals in Rymans Büro gesehen hatte. In der Hoffnung auf eine Erklärung sah ich Gill an. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass mich jetzt mein Urteil erwartete, als müsste ich vor den Richter treten.
Ihr Lächeln wirkte verstörend, als wäre sie froh, mich verunsichern zu können. »Mit denen hat Wallace die Turbulenz in jedem Quadranten für die Bereiche außerhalb der zentralen Rechnung simuliert. So hat er das Problem beim Übergang von einem Wettersystem zum nächsten umgangen.«
»Aber wie?«, fragte ich und nahm die größte Hülse aus ihrer Mulde. Schon während ich die Frage aussprach, hatte ich eine Ahnung, denn ich spürte, wie sich in der Hülse ein Gewicht verlagerte; es gab auch ein sandig rieselndes Geräusch wie in einem Kaleidoskop oder in einer Saatdose.
»Geben Sie sie her«, befahl Gill. »Und halten Sie die Hände auf.« Wieder hatte ich das Gefühl, vor Gericht zu stehen.
Ich folgte ihrer Anweisung, und sie öffnete den Schraubverschluss der Patronenhülse. Mit sehr vorsichtigen Bewegungen streute sie etwas vom Inhalt in die Schale, die meine Handflächen bildeten. Es waren winzige ausgestanzte Messingziffern. In der Hülse lagen noch Hunderte davon.
»Er hat sie in Präzisionsarbeit in Deutschland machen lassen und sie 1939 auf dem Rückweg von seiner Polen-Reise abgeholt. Einer der Gründe, weshalb er nach Berlin fuhr.«
Plötzlich erahnte ich wie in einem Aufblitzen enthüllten Wissens die Grundzüge der Methode, aber Gill war mir einen Schritt voraus. »Es ist sehr wichtig, dass Sie keine einzige verlieren«, erklärte sie und berührte den Ziffernhaufen in meinen Händen. »Jede Hülse enthält eine andere Menge an Zahlen, also können Sie innerhalb eines gewissen Bereichs jedes Mal den Minimal- und Maximalwert festlegen. Wallace hat die Hülse immer geschüttelt wie eine Maraca, einen Haufen davon auf den Tisch gestreut und dann mit geschlossenen Augen die Menge an Zahlen aufgesammelt, die er für die aktuelle Rechnung brauchte.«
Ich war beeindruckt, dass sie das Ganze so genau durchschaute. »Die Ziffern sind dann quasi die Grundlage für weitere Berechnungen«, setzte sie mit derselben sicheren Stimme fort.
»Also mathematisch bestimmte Zufallswerte?«, fragte ich und sah mir die Ziffern an, die noch immer in meinen Händen lagen.
Sie nickte. »Genau. Räumen Sie sie vorsichtig wieder ein. Wir müssen zur Fähre.«
Als wir dort ankamen, durfte ich sie zum Abschied nicht mal küssen, sie wandte sich nur mit einem melancholischen Lächeln ab und ging zurück zum Morris. Selbst damals machte ich mir noch Hoffnungen, als ich sie wegfahren sah.
Die Überfahrt über den Solent verbrachte ich in einem Strudel der Gefühle, vermischt mit mathematischen Überlegungen. Es war, als hätten endlich zwei Teile meines Gehirns zueinandergefunden ... Erfüllt von Schmerz und Trauer, Begeisterung und Erleichterung, kam ich mit Gills Koffer in der Hand und meinem Seesack mit den Instrumenten über der Schulter rechtzeitig für die Samstagabendkonferenz in Southwick an.
Das schöne Wetter und die Maßnahme, dass während des Krieges die britische Sommerzeit zwei Stunden von der GMT abwich, bedeuteten, dass es selbst um neun Uhr abends noch sehr hell war. Für einen Laien hätte es so ausgesehen, dass man am kommenden Montag problemlos die Invasion beginnen konnte - doch die Wetterkarten bestätigten die Prognose vom vorigen Tag, dass ein Sturm im Anmarsch war.
Von einem der Navy-Meteorologen hörte ich, dass Stagg in meiner Abwesenheit während der Achtzehn-Uhr-Konferenz wieder unwohl geworden sei - ich stellte mir vor, dass er sich wieder übergeben hatte. Yates hatte die Leitung übernehmen müssen.
Aber jetzt saß Stagg wieder auf seinem Stuhl. Es sah nicht gut aus für Montag. Die Admiralität schätzte die Lage jetzt noch pessimistischer ein und hatte sich Dunstables Sicht angenähert. Sie erwähnten auch einen bedeutenden Sturm, der sich östlich der Großen Seen in den USA gebildet hatte und sich Richtung Atlantik bewegte, wo er bald die Wetterlage bestimmen würde. Petterssens Analyse der oberen Luftschichten untermauerte die baldige Ankunft von »Sturm E«, wie wir ihn nannten.
Als würde er die Situation langsam akzeptieren, erwähnte Krick den »Hochdruckfinger« nicht mehr, von dem er zuvor behauptet hatte, er würde den Kanal von der früher ankommenden irischen Kaltfront abschirmen. Trotzdem blieb er dabei, dass man am Montag angreifen könne. Aus Solidarität, nicht aus Überzeugung, ließ er sich von Stagg und Yates aber zu einem einstimmigen »Nein« überreden.
Die Werte von WANTAC wichen auch mit den neuen Instrumenten immer noch deutlich von ihrer Umgebung ab, was ich als weitere Bestätigung nahm, dass die früheren Messungen korrekt gewesen waren.
Direkt im Anschluss an die Konferenz erzählte ich Stagg, was ich bei Saunders-Roe herausgefunden hatte. »Meiner Meinung nach können wir uns auf WANTAC verlassen. Ich weiß allerdings noch nicht, was die Werte bedeuten. Ich habe den Verdacht, dass sich dort ein Hochdruckkamm bildet. Oder eher ein kleiner Kanal als ein Kamm, aber da ist etwas. Ich habe auf der Fähre versucht, es mir zu erklären, aber ich brauche mehr Zeit.«
Stagg ignorierte die technischen Details dessen, was ich gesagt hatte, und sah mich grimmig an. »Und genau die haben wir nicht.« Es hätte noch nichts gebracht, ihm von Gill und den Patronenhülsen zu erzählen.
Ich hielt den Mund und begleitete Stagg und Yates zur Tür zum Treffen mit dem Oberbefehlshaber unten im Haupthaus. Als die beiden gerade hineingehen wollten, kam Admiral Creasy den Flur entlanggeschlendert. »Hallo die Herren. Haben Sie heute mal bessere Nachrichten für uns? Sie sehen auf jeden Fall viel glücklicher aus als gestern, das muss ich schon sagen.«
Stagg lächelte geduldig. »Ich kann leider nicht sagen, dass ich viel glücklicher bin, Sir.«
»Na, das Schlimmste werden wir bald wissen«, erwiderte Creasy, und sie betraten den Konferenzraum. Ich blieb mit den anderen Assistenten draußen stehen, aber ich wusste, was Stagg den versammelten hohen Tieren erzählen würde. Nämlich dass das Wetter auf den Britischen Inseln im Laufe der nächsten Tage unter dem Einfluss eines komplexen Turbulenzmusters stehen werde, mit Windstärke fünf im Kanal, starker, niedriger Bewölkung und möglichem Seenebel. Es gab auf dem Atlantik eine Reihe von drei Tiefdruckgebieten, die für raue See sorgen würden - viel zu rau für eine Landung am Montag - und für viel zu starke Bewölkung, um erfolgreiche Bomber- und Luftlandeeinsätze zu starten.
Nach der Konferenz, gegen elf Uhr, schilderte Stagg mir, was passiert war. Eisenhower hatte gefragt, ob die Möglichkeit bestehe, dass die Prognose am nächsten Tag optimistischer ausfiele, und Stagg hatte erklärt, dass die ganze Wetterlage auf der Kippe stehe. Am letzten Abend habe er noch gedacht, dass es einen leichten Ausschlag zur optimistischen Seite gebe, doch jetzt habe sich die Waage zu stark zur anderen Seite geneigt, um wieder umzuschwingen. Leigh Mallory, der für die RAF sprach, hatte gefragt, wie es mit den Einsatzbedingungen für schwere Bomber aussehe, und dann hatte Eisenhower noch einmal wissen wollen, ob die Prognose am nächsten Tag (Sonntag) nicht vielleicht doch positiver ausfallen würde.
»Leider nein, Sir« war alles, was Stagg antworten konnte - und mir gegenüber fügte er hinterher draußen hinzu: »Es kommt mir so vor, als ob sie den Angriff verschieben werden. Ich habe das Gefühl, dass Montgomery sich auf Montag festgelegt hat, komme was wolle, dass aber Eisenhower auf uns hört.«
»Aber wenn wir versuchen, die Schiffe in die Häfen zurückzurufen, bricht völliges Chaos aus.« »Ja«, erwiderte Stagg finster.
»Und die Deutschen bekommen garantiert etwas davon mit.«
»Ja«, wiederholte er noch finsterer.
Während er mir all das erzählte, spazierten wir im Mondlicht um die düstere viktorianische Villa Southwick House. Ein Dienstwagen nach dem anderen hielt knirschend auf dem Kiesparkplatz - Packards, Morrises, Lea Francises. Aus einem der Wagen stiegen Smuts und Churchill und sahen aus wie Laurel und Hardy - ihre Gesichter, die kurz in der Außenbeleuchtung zu sehen waren, wirkten schwermütig. Bevor der Premierminister uns Wetterleute erkennen konnte, die all die schlechten Nachrichten brachten, wandten wir uns schnell ab und gingen noch einmal ums Haus.
»Es heißt, Eisenhower beschwert sich, weil Churchill ihm immer die Donuts wegisst«, flüsterte Stagg. »Und Montgomery passt es nicht, dass Eisenhower raucht.«
Stagg war erleichtert, dass er ihnen endlich eine Prognose ohne Einschränkungen hatte geben können, auch wenn es wahrscheinlich bedeutete, dass die Invasion verschoben werden musste. »Es geht mir wirklich besser«, sagte er, »aber wenn Montag gutes Wetter ist, hängen die mich dafür auf.«
Als wir das Haus umrundet hatten, schritten wir auf den Rasen davor zu. Es war Vollmond, fast windstill und völlig wolkenlos. Alles in allem war es fast wie einer von Rymans kurzen Momenten im Paradies - ein Zustand »völlig frei von Turbulenz«, der einem Gleichgewicht der Atmosphäre so nah ist, wie es nur geht. Allerdings sagten wir für den Morgen dichte Wolken und starke Winde voraus. Es schien einfach nicht zusammenzupassen. Doch in Wirklichkeit brauten sich bei diesen scheinbar ruhigen Hintergrundbedingungen oft mächtige Wetterereignisse zusammen. Außerdem musste ich jetzt endlich meinen Rubikon überschreiten.
»Ich gehe jetzt zurück und versuche noch ein letztes Mal, die Ryman-Zahl auf die WANTAC-Werte anzuwenden«, sagte ich, während wir über die dunklen Flächen hinter dem Rasen blickten, wo sich geisterhafte Zeltreihen durch das Gras zogen und Rhododendronbüsche aufragten wie Seeungeheuer.
»Erklären Sie mir altem Dummkopf doch mal, warum WANTAC so unglaublich wichtig ist und was das Ganze mit Ryman zu tun hat.«
»Ich glaube, WANTACs abweichende Messwerte sind darauf zurückzuführen, dass es sich an einer von Rymans Wettergrenzen befindet, am Rand eines schmalen Hochdruckgebiets, das uns genau die Sturmpause gibt, die wir brauchen. Ich bin davon überzeugt, dass die Instrumente fehlerfrei funktionieren, aber ich habe es noch nicht geschafft, die Zahlen in ein synoptisches Modell zu übertragen. Wieder geht es um seine Zahl.«
»Tut mir leid, aber ich verstehe es immer noch nicht«, erwiderte Stagg, dessen Schritte neben mir im Kies knirschten.
»Die Ryman-Zahl beschreibt, wie turbulent eine Atmosphärenparzelle ist. Sir Peter hatte mich nach Schottland geschickt, um herauszufinden, wie breit und hoch diese Parzellen sind - die Reichweite einer einzelnen Zahl also. WANTACs Messwerte sind deshalb so wichtig, weil sie eventuell auf genau den kleinen Hochdruckabschnitt hinweisen, den Eisenhower braucht. Wenn es wirklich so ist, ist unsere Arbeit hier getan.«
»An Ihrer Stelle würde ich mich lieber mal hinlegen; unsere Arbeit ist noch lange nicht getan«, erwiderte Stagg barsch.
Wir standen am Rand des Rasens. Ich trat mit der Fußspitze gegen die Kante.
»Da fällt mir etwas ein, was ich Ihnen noch sagen wollte«, setzte Stagg fort. »Air Marshai Tedder hat mich nach der Konferenz beiseitegenommen und gesagt, dass wir - also die Briten - ein paar Meteorologen mit der Invasion aufs Festland schicken sollten, die überprüfen, wie genau unsere Vorhersagen mit der Realität vor Ort übereinstimmen. Die Yankees haben wohl zwei komplette Staffeln Wetterbeobachter dabei. Wir dagegen haben einfach keine Leute mehr. Tedder hat mit Sir Peter gesprochen, und der hat mich angerufen und gefragt, ob Sie nicht mitgehen wollen, da Sie ja jung und einsatztauglich sind und sich mit der Lage auskennen. Er hat gesagt, es wäre vielleicht eine Möglichkeit für Sie, die Sache mit Ryman wiedergutzumachen.«
»Tatsächlich?« Instinktiv wollte ich sofort Nein sagen, aber stattdessen erbat ich mir etwas Zeit, um darüber nachzudenken. In gewisser Weise war es eine große Ehre, gefragt zu werden - doch ich hatte keinerlei militärische Ausbildung. Ich war erschöpft und überwältigt von der Bedeutung der Frage und starrte hinauf in den Nachthimmel. Die Sterne schienen zu zittern, als hätten sie dieselbe Vorahnung.
»Ich bin kein Soldat«, sagte ich, als wir uns umdrehten und wieder auf das Haus zugingen, dessen verdunkelte Fenster winzige Lichtränder hatten, die von oben nicht zu sehen waren.
»Das ist natürlich ein Nachteil«, erwiderte Stagg. »Aber es würde sehr helfen, wenn jemand, der sich wirklich mit der Materie auskennt, die theoretischen Vorhersagen mit den tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort abgleicht. Überlegen Sie es sich auf jeden Fall, denn selbst wenn wir heute verschieben, müssen wir im Laufe der nächsten drei Wochen angreifen, ob das Wetter mitspielt oder nicht.«
Er lachte verbittert. »Nur leider ist das hier kein Spiel. Kommen Sie, wir sollten langsam zurückgehen.«
Als wir zurück zum Haus gingen - und gerade auf dieses viktorianische Monstrum zukamen -, hörten wir schwere Schritte auf dem Kies und trafen kurz danach einen nach Luft schnappenden General Bull, der uns gesucht hatte.
»Verschwinden Sie doch nicht einfach so! Ich soll Ihnen ausrichten, dass Montag wahrscheinlich verschoben wird. Das würde heißen, dass wir heute wieder bei D-Day minus drei stehen.«
Das bedeutete, die Invasion würde Dienstag starten, doch ganz so einfach war es nicht. »Aufgrund Ihrer Prognose will General Eisenhower den D-Day gleitend Stunde für Stunde und Tag für Tag aufschieben«, setzte Bull fort. »Wir treffen uns morgen früh um vier Uhr fünfzehn, und je nachdem, was Sie sagen, wird er die Verschiebung bestätigen oder nicht. Wenn möglich, wird er dann oder später am Tag definitiv festlegen, ob der D-Day Dienstag stattfindet.«
Es hörte sich sehr vorläufig an, aber es war wirklich geschehen. Gemeinsam hatten wir, Stagg und ich, Krick, Petterssen, Douglas und die Admiralität, unterstützt von Tausenden anderen Mitarbeitern der alliierten Wetterdienste, dafür gesorgt, dass eine Entscheidung getroffen worden war. Es war, als wäre Rymans Vorhersagefabrik endlich Wirklichkeit geworden - allerdings wussten wir immer noch nicht sicher, ob die Entscheidung, die Invasion zu verschieben, die richtige gewesen war. Der Himmel war fast völlig klar, es gab keinen Regen.
»Vielleicht ist es auch Wahnsinn, Sie unter diesen Bedingungen durch die Normandie zu jagen«, sagte Stagg, als Bull gegangen war.
»Nein«, erwiderte ich. »Ich gehe mit.«
Ein seltsames Gefühl hatte mich in der Gegenwart des Generals ergriffen. Die Angst und Erschöpfung waren von mir abgefallen, und plötzlich wollte ich unbedingt mitten ins Geschehen. Ich wollte unter den Männern sein, deren Schicksal unsere Vorhersage bestimmen würde. Ich hatte mich zu lange hinter meinen Zahlen verkrochen.
Doch eine letzte Berechnung stand noch aus. Ich musste mich endlich an die Aufgabe machen, auf die ich so lange hingearbeitet hatte. Das hieß, mit neuer Zielstrebigkeit an die Prognoseprobleme heranzugehen und das anzuwenden, was ich von Ryman erfahren und bei den Experimenten bei Saunders-Roe herausgefunden hatte. Gills Geschenk der Patronenhülsen hatte mir neue Kraft gegeben und meinen Eifer entfacht.
Also ging ich in dieser Samstagnacht wieder hinauf zur Nissenhütte und fing an, die Ryman-Zahl nach der von Gill erklärten Simulationsmethode auf aneinander angrenzende Atmosphärenparzellen anzuwenden, die von WANTAC vor Island bis hinunter in den Kanal reichten. Ich war noch nicht völlig davon überzeugt, aber ich musste es versuchen. Es schien einen Sinn zu ergeben: Da diese Methode ein gewisses Maß an Ungewissheit in die Berechnungen einbezog, war sie die beste Möglichkeit, die Vorhersage zukunftssicher zu machen.
Ich musste mich gegen die Schwindelanfälle wappnen oder gegen Unsicherheit im Allgemeinen, denn genau das waren sie eigentlich, doch waren die Patronenhülsen und ihr Inhalt wirklich die richtige Medizin? In gewisser Weise wirkten sie wie eine eigene Form des Schwindels, doch vielleicht sollte es genau so sein. Nach der Schlammlawine hatten die Afrikaner in Zomba sich gezielt von Taumelkäfern beißen lassen. Sie sammelten die Käfer aus Gebirgsbächen und -seen und hielten sie sich an die Brustwarzen, wo sie als Verteidigungsreaktion zubissen und ein kräftiges Steroid freisetzten.
So endete die Kizunguzungu-Epidemie.